Barrierefreiheit und Selbstrettung – Teil 1

Anforderungen und Rahmenbedingungen für die Selbstrettung

Rollstuhlfahrer können behindertengerecht errichtete bauliche Anlagen ohne wesentliche Einschränkungen benutzen. Im Brandfall bleibt aber unklar, wie diese und Menschen mit anderen Behinderungen eigenständig wieder aus dem Gebäude hinauskommen können.

Diagramm
Nach einer von den Autoren durchgeführten Umfrage unter 596 Behindertenreinrichtungen hat es in rund 20 % der Einrichtungen mindestens einmal gebrannt.

 Barrierefreiheit

Barrierefreiheit und die dafür vorzusehenden Brandschutzmaßnahmen wirken sich auch auf die Informationsvermittlung aus, nicht erst im Notfall, sondern schon bei der Vermittlung von Informationen des organisatorischen Brandschutzes an die unterschiedlichen Gruppen der Behinderten. Es geht beim Brandschutz für Menschen mit Behinderungen daher nicht nur um geometrische Parameter, auch wenn diese sich baulich am stärksten auswirken. Als Beispiel kann ein altersgemäß mobiler 85-Jähriger angeführt werden. Seine Mobilität kann weit unter der eines 40-jährigen Rollstuhlnutzers liegen, doch er würde gar nicht in den üblichen Kreis von Menschen mit Behinderungen aufgenommen, da seine Geh-, Hör- und Sehfähigkeiten zwar vorhanden, aber altersbedingt gemindert sind. Diese Einschränkungen, verbunden mit geringerer Körperkraft, bringen ihn jedoch in die Gruppe gefährdeter Personen, für die z. B. gesetzlich erlaubte Rettungsweglängen nicht mehr akzeptabel sein können.

Für Planungen eines barrierefreien Brandschutzes ist deshalb von folgenden Einschränkungen auszugehen:

  1. Bewegungseinschränkungen
  2. Wahrnehmungseinschränkungen
  3. Einschränkungen der geistigen Aufnahmefähigkeit
  4. Kombinationen der Einschränkungen 1 bis 3.

Gesetzeslage

Der vfdb-Leitfaden schreibt zum Thema der Selbstrettung Behinderter: „Für Personen, die diese Selbstrettungsphase nicht nutzen (können), werden grundsätzlich keine besonderen Brandschutzmaßnahmen (…) ergriffen. Ihre Fremdrettung ist den situationsbedingten Einsatzmöglichkeiten der Feuerwehr unterworfen (nicht planbare Fremdrettung) und fällt unter das ‚Restrisiko‘ des Brandschutzkonzeptes.“

Die Norm für barrierefreies Bauen (DIN 18040-1), die Musterbauordnung (MBO) und die Bauordnungen der Länder (LBOs) einschließlich ihrer technischen Baubestimmungen gehen detaillierter auf die Anforderungen an die Nutzung barrierefreier Gebäude ein. Schlüssige Rettungskonzepte für behinderte Menschen werden dort jedoch nicht gezeigt oder gefordert. Die Umsetzung einer gesicherten Selbstrettung behinderter Menschen ist deutschlandweit nur in zwei Regelwerken angedeutet: Die DIN 18040-1 erwähnt unter Punkt 4.7: „In Brandschutzkonzepten sind die Belange von Menschen mit motorischen und sensorischen Einschränkungen zu berücksichtigen.“ Dazu schränkt die Muster-Liste der Technischen Baubestimmungen allerdings ein: „Die in Abschnitt 4.4 und 4.7 genannten Hinweise und Beispiele können im Einzelfall berücksichtigt werden.“ […]

Buchtipp

Schutzzielkonkretisierung

Laut MBO-Schutzzielen wird nur die Möglichkeit der Personenrettung gefordert und nicht explizit die eigenständige Rettung. Es ist nicht definiert, dass diese Personen in die Lage versetzt werden müssen, sich selbst zu retten. Allerdings sehen die baulichen Vorgaben der MBO ganz klar vor, dass zumindest für den ersten Rettungsweg immer die Selbstrettung möglich sein muss.

Im Jahr 1994 wurde Artikel 3 des Grundgesetzes um den Passus ergänzt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Daraus kann geschlossen werden, dass die Möglichkeit zur Selbstrettung zumindest für den ersten Rettungsweg grundsätzlich zu gewährleisten ist und zudem auch für Menschen mit Behinderung vorgehalten werden muss, wenn die entsprechenden Gebäude von Behinderten genutzt werden. Die Forderung nach einer Umsetzung von Selbstrettungsmöglichkeiten für Behinderte stellt auch eine Grundsatzforderung vieler Behindertenverbände beim Thema Brandschutz dar. Auch der „Hessische Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention“ schreibt unter Punkt 4.3.1 Barrierefreies Bauen: „Barrierefreiheit sollte sich nicht nur auf die Nutzung von Gebäuden, sondern auch auf die Verbesserung der Möglichkeiten zur Selbstrettung im Gefahrenfall beziehen.“

In Gebäuden mit Hilfsbedürftigen wird vorgeschlagen, die Selbstrettung auf die Selbstrettung mit Betreuer zu erweitern. Der Betreuer und der Hilfsbedürftige organisieren die Selbstrettung im Zusammenspiel. Kann ein Hilfsbedürftiger auf diese Weise den sicheren Bereich erreichen, wird dies als Selbstrettung definiert. Diese besteht aus der Flucht vom Gefahrenbereich in einen sicheren Bereich im Gebäude sowie dem Transport aus diesem ins Freie. Selbstrettung ist im Wesentlichen das Vermögen, sich selbst aus Gefahrensituationen zu befreien. Dazu gehört das Wissen, wie man Gefahrensituationen verhindert und wie man sich aus eigener Kraft aus einem Gefahrenbereich rettet.

Das konkretisierte Schutzziel für Menschen mit Behinderungen könnte wie folgt lauten: Den behinderten Nutzern von öffentlichen Gebäuden bzw. Einrichtungen mit Anteilen an behinderten Nutzern ist die Selbstrettung bis ins Freie zu ermöglichen.

Fazit

Die gesetzlichen Regelungen zur Rettung behinderter Menschen aus Gebäuden sind schlichtweg unzureichend und es muss eine Schutzzielkonkretisierung vorgenommen werden. Die Furcht vor hohen Kosten durch die daraus resultierende Verpflichtung zur Herstellung barrierefreier Rettungskonzepte muss mithilfe einer systematischen Herangehensweise an das gesamte Thema beseitigt werden. Die vorgeschlagene erweiterte Definition der Selbstrettung stellt einen ersten Schritt dar.

In den weiteren Teilen der Beitragsserie wird eine Systematik zur schrittweisen Annäherung an einen Lösungsansatz vorgestellt, der wirtschaftlich vertretbar ist und dennoch die angestrebten Schutzziele erreicht.

Weiter zu Barrierefreiheit und Selbstrettung – Teil 3

feuertrutz

Quelle: FeuerTRUTZ
Autor: Johannes Göbell und Steffen Kallinowsky

Gesamter Beitrag: Barrierefreier Brandschutz – Teil 1 (PDF)