Barrierefrei Bauen für Autisten | Interview mit Tamara Kessel

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Wie kann barrierefreie Architektur Menschen mit Autismus unterstützen? Impulse und Antworten liefert das bfb-Interview mit der Architektin Tamara Kessel. Bei ihrem Sohn wurde im Kleinkindalter frühkindlicher Autismus diagnostiziert.

bfb: Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die für außenstehende Personen nur schwer fassbar ist. Können Sie in wenigen Worten zusammenfassen, wie sich Autismus äußert?

Tamara Kessel: Autismus ist tatsächlich ein sehr komplexes Phänomen, das keine dinglichen Eigenschaften hat. Es entsteht bereits vor der Geburt und kommt sukzessive und in unterschiedlichen Ausprägungen zum Vorschein. Das Spektrum reicht von schwachen und mäßigen bis hin zu schweren Erscheinungsformen.

Die Vielfalt von „Autismen“ wirken sich auf die Entwicklung des Gehirns aus. Sie bewirken Veränderungen in emotionalen, sprachlichen, kognitiven, motorischen und sozialen Funktionen und werden von atypischen Wahrnehmungsverarbeitungsprozessen im Gehirn begleitet.

Sichtbar werden autismusspezifische Verhaltensweisen, die vom Umfeld als frustrierend bis faszinierend wahrgenommen werden.

Manche autistische Menschen verfügen über hohe funktionale Fähigkeiten, so dass auf den ersten Blick ihr Autismus und die Unterschiede zur sogenannten „Normalität“ kaum zu fassen sind. Dennoch haben sie meistens auch bei hoher Intelligenz und guter beruflicher Leistung große Schwierigkeiten bei der Führung eines unabhängigen Lebens und der Alltagsbewältigung.

Auch wenn Autismus verschiedene Erscheinungsformen vereint, sind Gemeinsamkeiten feststellbar. Sie betreffen soziale und kommunikative Schwierigkeiten sowie Einschränkungen beim Vorstellungsvermögen. Durch Mangel an Vorstellungskraft entstehen Unflexibilität im Handeln, eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten sowie Probleme bei der Anpassung an neue Situationen oder Umstände.

Außer dieser Kernmerkmale sind weitere Auffälligkeiten in verschiedenen Ausprägungen vorhanden, z.B. motorische Ungeschicklichkeit, Bedürfnis nach Routinen (große Probleme bei Veränderungen und unerwarteten Ereignissen), Hypo- und Hyperreaktivität gegenüber verschiedenen Sinnesreizen, isolierte Fähigkeiten und Fertigkeiten. Zusätzlich treten oft begleitende Erkrankungen auf, die weiterer Vorkehrungen und Pflege bedürfen.

 

bfb: Wie kann die gebaute Umwelt Menschen mit Autismus im alltäglichen Leben unterstützen?

Tamara Kessel: In einer überarbeiteten Definition des Behinderungsbegriffes, wird von einer Wechselwirkung zwischen dem Menschen mit einer Beeinträchtigung sowie einstellungs- und umweltbedingten Barrieren ausgegangen. Durch ihre subtile und äußerlich oft nicht greifbare Behinderung sind autistische Menschen auf vielfältiger Weise umweltbedingten Stressfaktoren ausgesetzt. Die entstehenden Spannungen und Missverständnisse bilden Barrieren für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben.

Im Unterschied zu den wechselnden Anforderungen an Spontanität, Flexibilität und Unberechenbarkeit, die mit sozialen Interaktionen einhergehen, bietet die gebaute Umwelt Griffigkeit, Vorhersehbarkeit, Struktur und Präsenz und kann repetitiv und ritualisiert erlebt werden.

Wenn wir Umgebungen mit dem Wissen um die besonderen Informationsverarbeitungsmechanismen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen autistischer Nutzer planen, nehmen wir vorbeugend Einfluss auf das Auftreten von Überforderungserscheinungen, Stresszuständen, Krisen oder Verhaltensauffälligkeiten. Eine solche autismusfreundliche bauliche Umwelt übt einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden, die Gesundheit, Selbstständigkeit und Sicherheit der autistischen Nutzer aus. Umweltbedingten Barrieren wird entgegengewirkt und sie werden in die Lage versetzt, ihr Potential möglichst selbständig zu nutzen.

 

bfb: Barrierefreies Bauen richtet sich in der Praxis in erster Linie an Personen mit Mobilitätseinschränkungen, Seh- oder Hörbehinderungen. Profitieren Autisten ebenfalls von diesen Maßnahmen oder benötigen sie eine ganz eigene Barrierefreiheit?

Tamara Kessel: Autistische Menschen sind häufig mehrfach behindert. Auch wenn „autismusfreundliches“ Bauen ein besonderes Verständnis voraussetzt, gibt es eine Reihe von typischen barrierefreien Standards, von denen auch autistische Menschen profitieren können. Insbesondere dann, wenn bei der Planung der Barrierefreiheit auch eine „autistische Perspektive“ eingenommen werden kann und diese in das Gesamtkonzept der Barrierefreiheit eingeht.

Es gibt sehr viele Schnittstellen zu den Bedarfen, die andere Behinderungsformen wie Seh- oder Hörbehinderung, Mobilitätseinschränkung, kognitive / sensorische Einschränkungen,  oder auch Demenz aufweisen, auch wenn die Ursachen einen ganz anderen Ursprung haben. Gleichwohl setzt die Ausgestaltung voraus, dass die Bedürfnisse autistischer Personen, die meist nicht auf der Hand liegen, bei der Gestaltung berücksichtigt werden.

Diese barrierefreien Maßnahmen und Ausstattungsstandards sind auch für autistische Personen hilfreich, u. a:

  • Stufenmarkierungen, die die Treppennutzung für sehbehinderte Menschen erleichtern.
  • Eine optimierte Raumakustik für Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen. Sie minimiert Störgeräusche und Nachhall und ist auch für autistische Nutzer ein unverzichtbarer Standard.
  • Die Vermeidung von scharfen Kanten an Bauteilen und Möblierung zur sicheren Benutzung durch Menschen mit motorischen Einschränkungen, blinden oder sehbehinderten Personen. Dies trägt auch zur Barrierefreiheit für autistische Personen bei, die oft mit eingeschränkt koordinierten Bewegungsabläufen kämpfen.
  • Einhebel-Armaturen mit Verbrühungsschutz für Menschen mit Einschränkungen der Feinmotorik und für blinde Menschen. So wird auch autistischen Menschen mit atypischer Eigenkörperwahrnehmung und damit verbundener taktiler Unter- oder Überempfindlichkeit eine sichere Benutzung ermöglicht.
  • Symbole zur Informationsvermittlung  und visuelle Orientierungs- und Leitsystemen, die auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen ausgerichtet sind. Sie erleichtern auch autistischen Personen, diese visuell (nicht kognitiv!) besser zu erfassen.
  • Eine visuell kontrastierende Gestaltung für sehbehinderte Menschen. Hier ist die spezifische Wahrnehmungsverarbeitung autistischer Personen zu beachten: Kräftige bzw. anregende Farbgebungen sowie mit auffälligen Musterungen ausgestaltete Glasmarkierungen können sie zu exzessiven und stereotypen Handlungen verleiten. Autismusfreundliche Farb- und Gestaltungskonzepte tragen zu barrierefreien Lösungen sowohl für autistische als auch für sehbehinderte Personen bei.

 

bfb: Gibt es spezielle Leitlinien für “autismusfreundliches” Bauen? Und welche Maßnahmen sind nicht nur für Autisten, sondern auch für andere Personengruppen hilfreich, z.B. für Menschen mit kognitiven Einschränkungen?

Tamara Kessel: Es gibt international wenige Architekten, die sich mit konkreten Empfehlungen für „autismusfreundliches“ Bauen befassen. Barrierefreie Lösungen, die sich in übergreifende Leitlinien übersetzen ließen, bedürfen einer interdisziplinären Perspektive und ja – vielleicht einen besonderen Ehrgeiz und Faszination für diese Nutzergruppe. Denn sie liegen nicht auf der Hand – bei Autismus ist nichts so, wie es scheint. Gleichzeitig macht dies auch die Auseinandersetzung mit dem räumlichen Kontext der Barrierefreiheit für diese Nutzergruppe so interessant. Nach Aussage eines Autisten sind sie: „(…) wie Salzwasserfische, die gezwungen sind, in Süßwasser zu leben. (…) Wenn eine Person mit Autismus und die Umgebung zueinander passen, verschwindet das Problem“. Andernfalls scheinen sie „behindert zu sein“.

Passende bauliche Umgebungen können für autistische Nutzer die umweltbedingten Barrieren messbar abbauen und die Rahmenbedingungen für eine selbstbestimmte Teilhabe verbessern.

Zur barrierefreien Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von baulichen Anlagen und Außenräumen habe ich eigene Empfehlungen herausgegeben. Diese basieren auf neurobiologischen Theorien zur Erklärung des Autismus, Analysen autismusspezifischer Merkmale, Bedürfnisse und Besonderheiten und der Auseinandersetzung mit international realisierten architektonischen Beispielen und Empfehlungen. Sie sind als Prinzipien „autismusfreundlichen“ Bauens formuliert und stellen ein übergreifendes Konstrukt dar, das ein Gesamtkonzept zur barrierefreien Nutzung der ganzen Gebäudeanlage (innen und außen) beschreibt.

Dabei nimmt der Aspekt der Raumqualitäten und deren gezielte Zuordnung innerhalb der räumlich-funktionalen Organisation einer Gebäudeanlage eine wichtige Rolle ein.

„Autismusfreundliche“ Entwürfe, die nach diesen Leitlinien entwickelt werden, zeichnen sich u.a. durch eine klar strukturierte und überschaubare Gebäudestruktur mit hohen räumlichen Qualitäten aus sowie durch eine Vorhersehbarkeit des räumlich-funktionalen Kontextes der verschiedenen Gebäudezonen.

Wenn man sich mit autismusfreundlichen Umgebungen auseinandersetzt, stellt man fest, dass sie einen Mehrwert für alle Behinderungsgruppen darstellen. Sie tragen zum Komfort und zur Steigerung des Wohlbefindens für alle Menschen – mit oder ohne Behinderung – bei.

 

bfb: Welche Tipps möchten Sie Architekten und Planern abschließend mit auf den Weg geben. Worauf sollte man beim barrierefreien Bauen für alle auf jeden Fall achten?

Tamara Kessel: Barrierefreies Bauen setzt eine intensive Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen und Fähigkeiten der spezifischen Nutzergruppen voraus. Erst dieses Wissen versetzt uns in die Lage, die Barrierefreiheit bereits in der Konzeptentwicklung so zielführend mitzudenken, dass sie als selbstverständlicher Bestandteil in den Entwurf eingeht. Im Hinblick auf die Vorgaben der DIN 18040 sind diese Kenntnisse auch unabdingbar, um den bestehenden kreativen Spielraum bei der Erfüllung der formulierten Schutzziele so auszufüllen, dass vom Ergebnis alle Nutzer auf selbstverständliche Weise profitieren.

Unsere Interviewpartnerin: Tamara Kessel
Dipl.-Ing. Architektin M.Sc., Sachverständige für barrierefreies Bauen, Referentin und Autorin mit Schwerpunkt Barrierefreiheit
www.architekturundbarrierefreiheit.de

 

Bedarfsgerecht barrierefrei gestalten
Mehr Informationen liefert der Atlas barrierefrei bauen“. Er erläutert Anforderungen, Lösungsvarianten sowie zahlreiche Beispiele für verschiedene Gebäudearten und Nutzergruppen . Das Kapitel 7 im Teil E „Personen und Nutzergruppen“ widmet sich dem Thema Autismus.