
Wie kann barrierefreie Architektur Menschen mit Höreinschränkungen unterstützen? Anworten liefert das bfb-Interview mit der Architektin Sabine Hopp, die selbst seit frühester Kindheit ertaubt ist.
bfb: Frau Hopp, das Architektur eine Symbiose aus Ästhetik und Funktionalität sein sollte, ist das Credo der meisten Architekten. Aber wie sieht das beim barrierefreien Bauen und speziell für Menschen mit Höreinschränkungen aus? Wie kann die gebaute Umwelt Gehörlose oder Schwerhörige unterstützen?
Sabine Hopp: Hier muss zwischen urbanem Raum und Gebäuden unterschieden werden. Lösungen in urbanen Strukturen sind großräumiger und bedürfen einer umfassenden Planung. Hilfreich für Menschen mit Höreinschränkungen sind beispielsweise:
- klar erkennbare und bestenfalls voneinander abgegrenzte Strukturen für Fußgänger, Fahrradfahrer und Autofahrer (Hintergrund: Die meisten Menschen nehmen Verkehrsteilnehmer unbewusst auch akustisch wahr. Gehörlöse können sich nähernde Fahrzeuge oder Personen außerhalb ihres Blickfelds jedoch nicht akustisch orten.)
- durchgängige visuelle Leitsysteme (digital oder analog) mit reduzierten Texten und intuitiven, leicht verständlichen Piktogrammen sowie einheitlichem Farbkonzept (Hintergrund: Visuelle oder taktile Leitsysteme ersetzen bzw. unterstützen den fehlenden bzw. eingeschränkten akustischen Sinn. Die Orientierung im Raume erfolgt intuitiv und unbewusst auf einer mehr-dimensionalen Ebene im 360 Grad Winkel. Ist eine Wahrnehmungsdimension, hier das Hören, eingeschränkt oder nicht vorhanden, kann dies zu Orientierungslosigkeit und Ängsten führen. Bei Gehörlosen zudem mit der Besonderheit, dass die Wahrnehmung und somit die Orientierung nach vorne, auf den individuellen Blickwinkel, beschränkt ist.)
- Zonierung mit sicheren Aufenthaltsqualitäten, also ruhigen Bereichen ohne oder mit reduzierten Geräuschen
- freie Fluchten und Sichtachsen, um eine gute Einsehbarkeit und Orientierung zu ermöglichen (Hintergrund: Dabei geht es nicht nur darum entgegenkommende, noch nicht sichtbare Personen rechtzeitig bemerken zu können. Visuelle und sensorische Informationen helfen Menschen mit Höreinschränkungen dabei, individuell zu erfassen, was räumlich um sie herum stattfindet.)
bfb: Und was ist innerhalb von Gebäuden zu beachten?
Sabine Hopp: Auch dort sind eindeutige, gut erkennbare Strukturen wichtig. Es sollten freie Sichtachsen geschaffen werden, insbesondere im Bereich der Eingänge und Haupterschließung, z.B. Foyers etc. Diese Bereiche sollten blendfrei gestaltet sein – sowohl hinsichtlich der Beleuchtung als auch der Oberflächen. Störende Geräusche können durch intelligent eingesetzte Schalldämm-Elemente reduziert werden. Sinnvoll ist es auch, wenn die eingesetzten Farben und Materialien bestimmten Funktionen oder Nutzungen zugewiesen sind und konsequent eingesetzt werden.
Für Gehörlöse sind geschützte Rückzugsorte wichtig, die vor einer Reizüberflutung der Augen schützen und eine Erholung ermöglichen. Absolut notwendig ist eine Alarmierung, die mit – festinstallierten oder mobilen – Meldern nicht nur akustisch, sondern auch mit visuellen und vibrierenden Signalen die Nutzer rechtzeitig warnt oder informiert. Diese Kombination von zwei unterschiedlichen Signalen hat sich bei Notfällen und Brandsituationen bewährt (Zwei-Sinne-Prinzip).
bfb: Hinter dem Begriff „Deaf Space Architecture“ verbergen sich Leitlinien für gehörlosengerechtes Bauen, die 2005 von dem US-Amerikaner Hansel Bauman aufgestellt wurden. Worum geht es da genau? Und haben sich diese Ideen in den USA bereits durchgesetzt?
Sabine Hopp: Hansel Baumann nahm bei uns im Fachbereich Architektur an der TU Darmstadt im Oktober 2018 an einem internationalen Workshop teil. Dort erläuterte er auch seine „Guidelines for the Deafs“, die diese Aspekten behandeln:
- sensory reach / senorische Reichweite)
- space and proximity / Raum und Nahbereich
- mobility and proximity / Mobilität und Bewegung im Nahbereich
- light and color / Licht und Farbe
- acoustics / Akustik

Zusammen mit den Architekten Steve Dangermond und Christopher Keane wurden diese Leitlinien zum „Deaf Space Design Guide“ weiter entwickelt und gemeinsam mit Betroffenen innovative Gestaltungsempfehlungen konzipiert. In diesen geht es darum, Architekten und Städtebauern einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, um die räumlichen Bedürfnisse sowie die Wahrnehmung der Gehörlosen nachvollziehen und baulich berücksichtigen zu können. Der „Deaf Space Design Guide“ wird als Standard u.a. bei vielen US-amerikanischen Universitäten angewendet. Aber auch im öffentlichen Raum und Gebäuden, die in den USA standardmäßig barrierefrei auszubilden sind, wird auf diese Empfehlungen zurückgegriffen.
bfb: Wie verbreitet ist gehörlosengerechtes Bauen hier in Deutschland? Gibt es gesetzliche Anforderungen, die zum Beispiel in öffentlichen Gebäuden umgesetzt werden müssen?
Sabine Hopp: Bisher liegt der Fokus beim barrierefreien Bauen auf Mobilitätseinschränkungen und Sehbehinderungen. Maßnahmen für Menschen mit Höreinschränkungen werden bisher kaum umgesetzt. Gesetzlich verpflichtende Anforderungen beinhalten die Technischen Baubestimmungen, über die die DIN 18040-1 „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude“ und die DIN 18040-2 „Teil 2: Wohnungen“, wenn auch mit Einschränkungen, bauaufsichtlich eingeführt sind. Hervorzuheben sind darin die sensorischen Anforderungen (visuell, akustisch, taktil) und die Formulierung von Schutzzielen. Berücksichtigt werden insbesondere die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung, Blindheit oder Höreinschränkung (Gehörlose, Ertaubte und Schwerhörige).
bfb: Welche Möglichkeiten bieten die Digitalisierung und Smart Home-Technologien für Menschen mit Hörschädigung?
Sabine Hopp: Fax und später E-Mails machten es für höreingeschränkten Menschen zum ersten Mal möglich, selbstständig digital zu kommunizieren. Ein Erfolg ist auch das Untertiteln von TV-, Video- und Audio-Sequenzen sowie das Einblenden von Simultan-Gebärden-Dolmetschern. Mittlerweile ist auch das Smartphone für einen Großteil der Gehörlosen zu einem unverzichtbaren Kommunikationsmittel geworden. Digitale Warnsysteme können die Sicherheit für Höreingeschränkte erhöhen, zum Beispiel durch Notruf-Apps, wie Echo112 oder Katwarn, und mithilfe von akustischen, visuellen und vibrierenden Hinweisen. Die Smart Home-Technologien befinden sich noch in der Entwicklung. Nicht außer Acht zu lassen ist zudem der Umstand, dass Digitalisierung sowie Smart Home-Technologien nicht alle Bevölkerungsstrukturen gleichermaßen erreichen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und können ökonomisch oder sozial, aber auch durch eine eingeschränkte Motorik bedingt sein. Die Digitalisierung bietet viel Potenzial, ist aber keine Allzwecklösung. Das ist gerade aktuell in der Corona-Krise spürbar. Video-Konferenzen sind für Gehörlose beispielsweise nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar, da die oft niedrige Übertragungsqualität eine saubere Live-Aufnahme sowie simultane und korrekte automatische Untertitel verhindern.
bfb: Welche Maßnahmen empfehlen Sie, um die Nutzbarkeit für Gehörlose und schwerhörige Menschen auch in Bestandsgebäuden zu verbessern?
Sabine Hopp: Eine punktuelle technische Nachrüstung ist in der Regel unproblematisch. Akustische, visuelle oder vibrierende Komponenten lassen sich einfach per Funk/W-Lan aufschalten und individuell anbringen. So können beispielsweise Türsysteme mit Gegensprechanlagen leicht mit akustischen und visuellen Elementen nachgerüstet werden. In Veranstaltungsräumen oder Hörsälen sind funkbasierte Lösungen denkbar, beispielsweise Saaltonsender, die mittels kleinem Empfangsgerät und eigenen In-Ear-Kopfhörer oder FM-Anlagen empfangen werden können.
Einzelarbeitsplätze in öffentlichen Gebäuden, beispielsweise in einer Bibliothek, lassen sich mit funkbasierten Vibrationsmeldern oder fest installierten Blitzleuchten für die Alarmierung im Not- und Brandfall aufrüsten.
Auch mobile Induktionsschleifen sind leicht nachrüstbar, unkompliziert zu handhaben und „budget-schonend“. Fest installierte Induktionsschleifen eignen sich hingegen nur bedingt für eine Nachrüstung, denn die Installation ist aufwändig und es besteht die Gefahr einer Rückkoppelung.
Aber auch im nicht technischen Bereich können Nachrüstungen erfolgen, beispielsweise durch farbige, taktile und visuelle Leitsysteme, in denen Materialen und Beleuchtungssysteme modifiziert oder neu konzipiert werden.
bfb: Welche Tipps möchten Sie Architekten und Planern abschließend mit auf den Weg geben. Worauf sollte man auf jeden Fall achten?
Sabine Hopp: Das Augenmerk sollte auf den vielfältigen Nutzergruppen liegen. So weisen z.B. Hochschulen eine immense Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Nutzern mit individuellen Besonderheiten auf. Insbesondere Menschen mit einer Einschränkungen der Sinne oder Motorik benötigen bauliche oder technische Unterstützung, beispielsweise durch das Zwei-Sinne-Prinzip. Bei Blinden oder seheingeschränkten Menschen bzw. bei Gehörlosen oder höreingeschränkten Menschen wird dabei der „fehlende“ Sinn durch einen „vorhandenen“ Sinn ersetzt, z. B. durch Vibrationsalarme, Blitzleuchten o.ä.
Letztendlich geht es bei einer inklusiven Planung immer um logische und eindeutige, nutzerfreundliche, altersunabhängige sowie flexible und sichere Strukturen. Insbesondere im öffentlichen Raum, wenn diverse Funktionen und Nutzer auf engem Raum zusammentreffen ist es wünschenswert, die Erschließung im Kontext zu beleuchten und genau zu planen. Nur so lässt sich erkennen, welche räumlichen Schnittstellen oder Hindernisse auftreten. Drei einfache Fragen, die sich am üblichen Ablauf orientieren, helfen dabei, Inklusion zu ermöglichen und einen Mehrwert für Alle zu bieten:
- Hinkommen: Wie kann der geplante öffentliche Raum oder das Gebäude sicher erreicht werden? …
- Ankommen: Wie findet die zielgerichtete Orientierung vor Ort statt? Ist z.B. der Haupteingang für alle gut auffindbar? Gibt es Sitzmöglichkeiten? …
- Reinkommen: Ist das Gebäude für alle zugänglich und nutzbar, also beispielweise schwellenlos zu betreten? …
Unsere Interviewpartnerin: Sabine Hopp ao Prof. Dr.-Ing. Architektin, Stadtplanerin (AKH, SRL), Leiterin der Koordinierungsstelle Barrierefreie TU, FB Architektur, FG Entwerfen und Stadtentwicklung (est) Forschungsprojekt Smart und Inklusive City c/o UHG Technische Universität Darmstadt www.stadtspiele.tu-darmstadt.de |
Weitere Information zu „Deaf Space“ von der Saint Mary’s University, Halifax, Kanada (english) >>
![]() Der „Atlas barrierefrei bauen“ zeigt, wie’s geht und liefert Anforderungen, Lösungsvarianten sowie zahlreiche Beispiele für verschiedene Gebäudearten und Nutzergruppen im Neubau und Bestand. |