Deutschland wird immer älter, doch wir fühlen uns immer jünger. Dennoch nimmt der Bedarf an barrierefreier, universeller Gestaltung zu. Doch wie sieht bedarfsgerechte Barrierefreiheit in der Praxis aus? Wie wollen wir morgen wohnen? Welche Herausforderungen und Potenziale ergeben sich für daraus für die verschiedenen Marktteilnehmer? Die Antworten fallen je nach Blickwinkel, Regelwerk oder Förderprogramm ganz unterschiedlich aus.

Die meisten Menschen möchten so lange wie möglich in der angestammten Wohnung bleiben. Mit zunehmendem Alter sind Menschen jedoch eher pflegebedürftig. Das Pestel-Institut prognostiziert für 2050 rund fünf Mio. Pflegebedürftige und erwartet schon ab 2035 einen Ruhestandsbevölkerungsanteil von über 30 %. Alter und Behinderung gehen oft einher, denn nur 3 % der Behinderungen sind angeboren. In den allermeisten Fällen werden Behinderungen im Laufe des Lebens erworben, z. B. durch Krankheit oder Unfälle. In Zukunft wird der Anteil der Menschen mit Bewegungs- und anderen Einschränkungen also stark zunehmen – mit entsprechenden Anforderungen an Städte, Infrastruktur und Gebäude. Welche Potenziale sich daraus ergeben und wie die verschiedenen Akteure davon profitieren können, zeigt die bfb-Trendstudie der Rudolf Müller Mediengruppe.
Eine lebenslaufbeständige Gestaltung hilft Kosten zu sparen

Eine inklusive, barrierefreie Gestaltung ist Grundvoraussetzung für ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Teilhabe im Alter und/oder bei Behinderung. Darüber trägt sie dazu bei, Stürze zu vermeiden und dient so der Unfallprävention. Bei Eintritt einer Pflegebedürftigkeit, ist die ambulante Pflege innerhalb einer barrierefreien Wohnung einfacher und länger realisierbar als in einer nicht-barrierefreien Wohnung. Typische Knackpunkte sind hier neben Stufen und Schwellen meist zu kleine Bäder, die keinen Platz für die Unterstützung durch eine Pflegeperson bieten sowie mangelnde Bewegungsflächen und zu schmale Durchgänge, die die Nutzung von Rollatoren oder Gehhilfen erschweren oder unmöglich machen. Barrierefreier Wohnraum kann langfristig dazu beitragen, den Anteil der ambulant versorgten Menschen zu erhöhen und so Kosten in der Pflege und im Gesundheitswesen zu reduzieren. Obwohl die Vorteile auf der Hand liegen, wird barrierefreies Bauen noch allzu oft mit Kostensteigerung gleichgesetzt. Dabei steht Barrierefreiheit – bei sinnvoller und vorausschauender Planung – nicht per se im Widerspruch zu wirtschaftlichem Bauen.
Lohnende Investitionen für mehr Komfort, aber auch mehr Sicherheit

Ein Großteil der Ausstattungen zur Barrierefreiheit erhöhen den Komfort und die Sicherheit für alle und gehören in zunehmendem Maß zum Standard: Bodengleiche Duschen, früher nur in Bädern vo Rollstuhlfahrern üblich, zählen dazu, ebenso Aufzüge und automatisch öffnende Türen z.B. in Einkaufszentren. Diese Kosten allein der geschuldeten Barrierefreiheit anzulasten, greift daher zu kurz. Dennoch erfordert barrierefreies Bauen Mehrinvestitionen, beispielsweise durch ein Mehr an technischer Ausstattung (Aufzüge) oder Mehrflächenbedarfe, z.B. durch größere Bewegungsflächen im Bad. Meist wird jedoch von zu hohen Kosten ausgegangen. Im Bereich des Wohnen geht es insbesondere um ein möglichst langes und selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung – ein wesentlicher Baustein zu Bewältigung des demografischen Wandel. Aber auch öffentlich zugängliche Gebäude müssen barrierefrei sein – gerade hier werden die gesetzlichen Vorgaben zukünftig weiter verschärft werden.
Unklare Regelwerke und fehlende Produktinformationen erschweren die Umsetzung
Bei Auftraggebern und Planern herrscht oft Unsicherheit in Bezug auf gesetzlich geforderte bzw. mögliche Standards (barrierefrei, barrierearm, seniorengerecht etc.) und Fördermöglichkeiten. Hinzu kommen komplizierte, widersprüchliche Regelwerke – verbunden mit entsprechenden Haftungsrisiken auf Seiten der Planer und Ausführenden. Auch die Angst vor „Krankenhausdesign“ schreckt einige ab. Dabei gibt es bereits eine Vielzahl von Bauprodukten und Ausstattungen, denen man die Barrierefreiheit nicht ansieht, insbesondere im Sanitärbereich.
Enormes Potential für barrierefreie Bauprodukte und demografiefeste Ausstattung

Die Produktinformationen der Hersteller könnten aber besser sein, denn Informationen zur Eignung im Hinblick auf die verschiedenen Anforderungen an die Barrierefreiheit sind oft noch Mangelware. Die Auseinandersetzung mit den besonderen Bedürfnissen von älteren Menschen und die entsprechende Entwicklung universeller, nicht-stigmatisierender Produkte bieten noch ein enormes Potenzial.
Nutzeranforderungen berücksichtigen – privat vs. öffentlich
Barrierefreiheit im öffentlichen Bereich, zum Beispiel in einem Flughafen, sieht naturgemäß anders aus als in einem privaten Wohngebäude oder in einer Pflegeeinrichtung. Nicht jede Nutzergruppe profitiert von den gleichen Maßnahmen und unterschiedliche Bedürfnisse führen zu sogenannten Schutzzielkonflikten. Hier gilt es abzuwägen, um geeignete Lösungen und tragfähige Kompromisse zu entwickeln. Eine vorausschauende Planung hilft, Kosten zu optimieren und angemessene Lösungen für die jeweils individuelle Bauaufgabe und Nutzergruppe zu finden. Je nach Komplexität empfiehlt es sich, dazu frühzeitig erfahrene Fachplaner für barrierefreies Bauen einzubinden – auch um unnötige oder nicht bedarfsgerechte Maßnahmen einzusparen und teure Nachrüstungen vermeiden.
„Öffnungsklauseln“ und Schutzziele bieten mehr Potenzial für Innovation und Produktentwicklung als gedacht

Gerade die oft gescholtene Normenreihe DIN 18040 „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen“ bietet hier Spielräume, die von Planern und Baubehörden, aber auch von Herstellern und Industrie oft noch wenig genutzt werden: „Die mit den Anforderungen nach dieser Norm verfolgten Schutzziele können auch auf andere Weise als in der Norm festgelegt erfüllt werden […]“ (Quelle: DIN 18040, Anwendungsbereich).
Oder: „Für Wohnanlagen für spezielle Nutzergruppen sowie Wohnungen für spezielle Nutzer können zusätzliche oder andere Anforderungen notwendig sein.“ (Quelle: DIN 18040-2, Anwendungsbereich).
An diese „Öffnungsklauseln“ und Schutzziele gilt es anzuknüpfen. Richtig angewendet bieten sie Planern, Bauherren, Herstellern und Industrie vielfältige Möglichkeiten, um bedarfsgerechte Lösungen und innovative Produkte zu entwickeln.
Lesetipp:![]() Die bfb-Trendstudie liefert Daten und Fakten zum Stand des barrierefreien Bauens in Deutschland, zu Erfahrungen und Herausforderungen sowie zu Chancen und Prognosen. Die Studie unterstützt sowohl bei der zielgerichteten Ansprache potenzieller Kunden als auch bei der strategischen Ausrichtung und zukünftigen Positionierung in diesem Wachstumsmarkt. |
Barrierefrei-Konzept als sichere Grundlage bei besonderen Bauvorhaben
Wenn es um besondere Lösungen für spezielle Nutzergruppen oder Abweichungen z. B. beim Bauen im Bestand geht, sind Barrierefrei-Konzepte hilfreich. Sie beschreiben die objektkonkreten Maßnahmen und stellen diese transparent und nachvollziehbar für alle in den Plänen dar. Für Sonderbauten werden sie in einigen Bundesländern und auch bei Bundesbauten im Rahmen des Genehmigungsverfahrens bereits gefordert und helfen, alle Anforderungen frühzeitig zu berücksichtigen und spätere Nachbesserungen und Mehrkosten zu vermeiden. Mehr zu Inhalt und Aufbau sowie eine Schritt für Schritt-Anleitung liefert das Handbuch Barrierefrei-Konzept.
Autor: Tanja Buß