
Die historischen Monumente des Landes für alle Besucherinnen und Besucher zugänglich zu machen ‒ das ist die Aufgabe der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Wie sie diesen Anspruch unterstützen können, haben zwei Studentinnen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in ihren wissenschaftlichen Abschlussarbeiten erforscht: Marieke Wydra entwickelte in ihrer Arbeit eine Führung, die blinden und sehbehinderten Menschen Besonderheiten des Heidelberger Schlosses erfahrbar macht. Und Sandra Kiebler beschäftigte sich mit Christian Niesen, der in den 1770ern am Mannheimer Hof erstmals erfolgreich einen blinden Jugendlichen unterrichtet hat. Beide Arbeiten wurden von Professor Dr. Markus Lang (Institut für Sonderpädagogik) betreut und sind in enger Kooperation mit den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg und dem Badischen Blinden- und Sehbehindertenverein entstanden.

Michael Hörrmann, Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, betont die große Bedeutung der Inklusion für die Arbeit der Staatlichen Schlösser und Gärten: „Die Monumente des Landes stehen allen offen – und wo es schwierig ist, da ist es unsere Aufgabe, Lösungen zu finden. Menschen mit speziellen Bedürfnissen sind eine wichtige und bedeutende Besuchergruppe für unser Kulturerbe – und die Staatlichen Schlösser und Gärten arbeiten daran, dass sich alle willkommen fühlen können.“
„Unsere Hochschule ist deutschlandweit eine von nur vier Ausbildungsstätten, die ein Vollzeitstudium der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik anbietet. Nach Anzahl Studierender ist sie die größte dieser Ausbildungsstätten und somit weit über Baden-Württemberg hinaus für die qualifizierte Ausbildung von Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen zuständig“, erklärt Lang. „Die Arbeiten von Marieke Wydra und Sandra Kiebler zeigen dabei eindrucksvoll, welchen wertvollen Beitrag das Studium nicht nur für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, sondern für eine inklusive Gesellschaft und damit für alle leistet.“
Heidelberg: Zugangsmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen schaffen

Marieke Wydra hat in ihrer Abschlussarbeit die Zugangsmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen im Rahmen einer Führung durch das Heidelberger Schloss untersucht und ein neues Angebot entwickelt.
Die angehende Sonderpädagogin befasst sich dabei zunächst insbesondere mit den allgemeinen Herausforderungen, wenn im Sinne der Barrierefreiheit neue Zugangsmöglichkeiten in denkmalgeschützte Gebäude geschaffen werden. Um die Heidelberger Schlossführerinnen und -führer im sensiblen Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen zu schulen, hat sie zudem einen Leitfaden entwickelt. Darin gibt sie konkrete Hinweise, wie Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung angesprochen, wie Objekte und Entfernungen am besten verbal beschrieben oder das taktile Erleben begleitet werden.
Den Schwerpunkt ihrer Arbeit stellen die von Wydra entwickelten Elemente geführter Touren da, die blinden und sehbehinderten Erwachsenen den kulturellen Zugang zum Heidelberger Schloss ermöglichen: Die Absolventin nennt für die einzelnen Stationen zunächst grundlegende und geschichtliche Aspekte. Im Anschluss zeigt sie detailliert und fein ausgearbeitet Zugangsmöglichkeiten und notwendige Anpassungen für blinde und sehbehinderte Menschen auf. So gibt Wydra zum Beispiel die Empfehlung, über das Ertasten von Mauerresten die Zerstörung des Schlosses, durch das Zählen der Tore die Befestigungsanlage oder durch die Bedienung einer Weinpumpe den Repräsentationszweck zu verdeutlichen.
Um Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung den Zugang zu Elementen zu ermöglichen, die zum Beispiel aufgrund ihrer Größe oder Positionierung nicht taktil erlebt werden können, hat Wydra Reliefmodelle entwickelt: Mittels eines beschichteten Spezialpapiers, das dunkel bedruckte Flächen und Linien durch kurzes Erhitzen aufquellen lässt, sind so zum Beispiel ein verkleinerter, taktiler Lageplan des Schlosses sowie ausgewählte taktile Wappen entstanden. Das Elisabethentor wurde im Vakuum-Tiefziehverfahren als stark erhöhtes und reproduzierbares Kunststoffrelief nachgebildet.
Für Lang leistet die Arbeit Wydras einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der kulturellen Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen: „Frau Wydra schafft es auf bemerkenswerte Weise, sich intensiv in die Gegebenheiten am Heidelberger Schloss als ein wesentliches historisches Kulturgut einzuarbeiten, barrierefreie Informationszugänge zu entwickeln und blinden- und sehbehindertenpädagogisch durchdachte Lösungen abzuleiten.“ Diese Lösungen sind dabei nicht exklusiv für blinde und sehbehinderte Menschen gedacht, sondern können jede Führung bereichern und auch nicht sehbeeinträchtigten Menschen intensive Erfahrungen und neue Einblicke ermöglichen.
Mannheim: Wiege der deutschen Blindenpädagogik
Die wissenschaftliche Abschlussarbeit von Sandra Kiebler beschäftigt sich mit Christian Niesen und der Frage, inwiefern dieser durch sein blindenpädagogisches Wirken den Anstoß für die Blindenbildung in Deutschland gegeben hat. Die weltweit erste Blindenschule wurde 1784 in Paris gegründet; Niesen jedoch überwand bereits in den 1770er Jahren die damals vertretene Meinung, dass Menschen mit Blindheit nicht bildbar seien. So unterrichtete er äußerst erfolgreich am Mannheimer Kurfürstenhof den früh erblindeten Johann Ludwig Weissenburg.
Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen schafft Kiebler zunächst einen historischen Zusammenhang. Die angehende Sonderpädagogin wirft hierzu einen Blick in die Geschichte der Blindenpädagogik und beleuchtet darüber hinaus den aufgeklärten Absolutismus zur Regierungszeit Karl Theodors.
Der umfassendste Teil der Arbeit widmet sich der Untersuchung des Unterrichts Niesens mit seinem Schüler, wobei die Mathematik die tragende Rolle spielt. Kiebler zeichnet dabei ein feines und durchaus differenziertes Bild von Niesen: Dieser war demnach früh zu der Erkenntnis gekommen, dass sich Wahrnehmung und Sprache sehender Menschen oftmals auf visuelle Reize bezieht; blinde Menschen hingegen nehmen über das Fühlen und Erleben wahr. Beiden gleich ist hingegen die grundsätzliche Möglichkeit der Bildung, es braucht lediglich unterschiedliche Ansätze der Didaktik – eine Idee, die sich durchaus mit dem heutigen Gedanken des inklusiven Unterrichts vergleichen lässt und die damals einzigartig war. Auf Grundlage der als gleichwertig erachteten intellektuellen Leistungsfähigkeit blinder und sehender Menschen entwickelte Niesen Rechenbücher für blinde und sehende Schülerinnen und Schüler. Und das zu einer Zeit – wie Kiebler weiter aufzeigt – in der es noch keine einzige Blindenschule gab und sich ein gemeinsamer Schulbesuch an allgemeinen Schulen nicht ansatzweise abzeichnete.
Mit der Erkenntnis, dass dem Unterricht mit Menschen mit Blindheit eine eigene Didaktik unterliegen muss, geht die Entwicklung spezieller mathematischen Hilfsmittel einher. Kiebler stellt die von Niesen entwickelten ausführlich vor. Sie zieht dabei Parallelen zur heutigen Blindenpädagogik, in der Lehrkräfte ihre Veranschaulichungsmedien immer noch häufig selbst herstellen müssen. Die grundsätzlichen Anforderungen an die Medien, beispielsweise an Größe, Stabilität oder Reduktion, haben sich – so eine Erkenntnis Kieblers – seit Niesen ebenfalls kaum geändert. Auch die Differenzierung des Unterrichtsmaterials nach unterschiedlichen Kenntnisniveaus findet sich laut Kiebler bereits bei Niesen.
Zum Abschluss ihrer Arbeit betrachtet die Absolventin differenziert die Bedeutung von Niesen zu Lebzeiten, seinen Einfluss auf andere Blindenpädagogen sowie auf die heutige Zeit. Sie kommt zu dem Schluss, dass seine Sichtweise auf Blindheit als außergewöhnlich und äußerst fortschrittlich bezeichnet werden muss. Sein Wirken und insbesondere seine zwei Werke über die Lehrart des Mathematikunterrichts mit Sehenden und Blinden haben so Kiebler die Institutionalisierung der Blindenbildung maßgeblich beeinflusst.
„Die Person Christian Niesen und seine Arbeit in der Blindenpädagogik ist bislang wenig erforscht“, sagt Lang. Die Arbeit von Kiebler sei daher besonders bemerkenswert: „Frau Kiebler hat die weit verstreuten Berichte, Dokumente und Zeugnisse zum Wirken Christian Niesens äußerst gründlich zusammengetragenen und sie kompetent zu einem aussagekräftigen Überblick verarbeitet. So gelingt ihr eine für die historische Blindenpädagogik erkenntnisvolle Arbeit, die das Wirken Niesens für die gleichwertige Bildungsfähigkeit blinder Menschen über seine Zeit hinaus überzeugend belegt.“
Quelle: Pädagogische Hochschule Heidelberg