Bautoleranzen und Maßabweichungen lassen sich auch beim barrierefreien Bauen nicht völlig vermeiden und führen immer wieder zu Streitigkeiten und Haftungsfragen. Aber sind durch Maßabweichungen zu klein geratene Bewegungsflächen zulässig? Oder handelt es sich bei den Vorgaben der DIN 18040 vielmehr um Mindest-Bewegungsflächen, die nicht eingeschränkt werden dürfen?
Die Normenreihe DIN 18040 definiert Bewegungsflächen wie folgt: „Erforderliche Fläche zur Nutzung eines Gebäudes und einer baulichen Anlage, unter Berücksichtigung der räumlichen Erfordernisse z. B. von Rollstühlen, Gehhilfen, Rollatoren“.
Bewegungsfläche vs. Bewegungsraum

Zur Klärung, ob Bewegungsflächen durch Bautoleranzen eingeschränkt werden dürfen, ist zunächst die Frage zu klären, ob die Anforderungen zweidimensional zu betrachten sind (im Sinne der Flächenangabe nach DIN 18040) oder auch dreidimensional, also räumlich. Handelt es sich „nur“ um zweidimensionale Anforderungen, könnten sich Toleranzen, d. h. die zulässigen Abweichungen, ausschließlich auf Länge und Breite beziehen. Wobei sich dann die Frage stellt, in welcher Höhenlage die Bewegungsflächen nachzuweisen sind. Da die Nutzung personenbezogener Hilfsmittel (Rollstuhl, Rollator etc.) aber grundsätzlich auf dem Boden stattfindet, ist die Bewegungsfläche auch dort nachzuweisen. Dennoch gelten die zweidimensionalen Flächenanforderungen auch in der Vertikalen. Im Abschnitt 4.1 der Normenreihe DIN 18040 heißt es dazu: „Die erforderlichen Bewegungsflächen dürfen in ihrer Funktion durch hineinragende Bauteile oder Ausstattungselemente, z. B. Telefonzellen, Vitrinen usw. (DIN 18040-1), Briefkästen (DIN 18040-2) nicht eingeschränkt werden.“ Das bedeutet, dass die zweidimensionalen Anforderungen grundsätzlich auch dreidimensional wirken. Anders gesagt, Bewegungsflächen haben aufgrund ihrer Funktion eine wirksame Höhe und bilden damit Bewegungsräume.
Bewegungsflächen im Bad

Nachvollziehbar wird die Dreidimensionalität der Bewegungsflächen im Bad. Die Bewegungsflächen müssen ausdrücklich jeweils „vor den Sanitärobjekten wie z. B. WC-Becken, Waschtisch“ angeordnet werden. Dabei wären gerade hier Unterschneidungen denkbar, z. B. im Hinblick auf unterfahrbare Waschtische. Davon sah der Normengeber jedoch ab, da die Nutzbarkeit damit infrage gestellt worden wäre. Für die Nutzbarkeit ist also die wirksame Höhe der Bewegungsflächen entscheidend. Aber gilt eine bestimmte Höhe für alle Bewegungsflächen? Normativ werden dazu keine Angaben gemacht. Als Anhaltspunkte kann Abschnitt 4.1 der DIN 18040-1/-2 dienen: „Zur Verkehrssicherheit, auch für großwüchsige Menschen, darf die nutzbare Höhe über Verkehrsflächen 220 cm nicht unterschreiten, ausgenommen sind Türen, Durchgänge und lichte Treppendurchgangshöhen.“ Für Türen verlangt Abschnitt 4.3.3.2 lichte (Durchgangs-)Höhen von ≥ 2,05 m. Die erforderliche Höhe der Bewegungsfläche kann auch niedriger sein, z. B. bei einer individuellen, behinderungsspezifischen Ausführung einer Dusche für einen Rollstuhlnutzer, da die Nutzung ausschließlich aus einer sitzenden Position heraus erfolgt. Solche Lösungen können im Individualbereich sinnvoll und ausreichend sein. Den grundsätzlichen normativen Anforderung genügen sie nicht. Die erforderliche Höhe einer Bewegungsfläche lässt sich also nicht pauschal definieren, sondern hängt von der konkreten Bausituation, der Funktion der jeweiligen Bewegungsfläche und den Anforderungen des Nutzers ab.
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Soll und Ist: Rohbaumaße vs. Fertigmaße

Die maßlichen Anforderungen an Bewegungsflächen beziehen sich auf den fertig gestellten Zustand unter Berücksichtigung einer nutzungsspezifischen Möblierung. Die Planung zielt dagegen meist auf den Rohbau ab. Die späteren Fertigmaße inkl. Putz, Einbaumöbeln, Ausstattungen (z. B. Handläufe) oder Sanitärelemente werden häufig vernachlässigt. Ein typischer Fehler ist, dass die Anforderungen von Bewegungsflächen auf diese Rohbauplanung abgestellt werden und dass die im Bauprozess unvermeidlichen, und in gewissem Umfang zulässigen, Maßabweichungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Nachfolgend wird dies anhand der Bewegungsflächen vor einem Aufzug erläutert. Nach DIN 18040-1 muss die Bewegungsfläche mindestens 1,50 (B) m x 1,50 (T) m betragen. Beim Bau eines Mehrfamilienhauses wurde dazu zwischen Fahrschacht und gegenüberliegender Wand ein Abstand von 1,52 m eingeplant (Rohbauplanung/Nennmaß). Zieht man je 1 cm Putz ab, verbleibt theoretisch eine lichte, und damit ausreichende Flurbreite von 1,50 m. Dazu müsste die Planung jedoch millimetergenau umgesetzt worden sein, wovon in der Praxis nicht ausgegangen werden kann. Bautoleranzen müssen daher bereits bei der Planung berücksichtigt werden, um Haftungsrisiken zu vermeiden. DIN 18202: 2019-07 „Toleranzen im Hochbau“ liefert dazu realistische Vorgaben, indem sie hinzunehmende Maßabweichungen im fertiggestellten Zustand (Istmaße) unter Berücksichtigung der geplanten Maße (Nennmaße) definiert und so kalkulierbar macht:

Die Maßtoleranz bei einem lichten horizontalen Abstand von > 1,00 bis ≤ 3,00 m zwischen Wänden beträgt ± 16 mm. Diese sowohl positive als auch negative Abweichung beschreibt die tolerierbare maßliche Abweichung (Grenzabweichung). Im Beispiel könnte der lichte Abstand zwischen Aufzug und Flurwand also zwischen 1,484 m und 1,516 m betragen, ohne dass nach DIN 18202 ein Mangel vorliegen würde. In Bezug auf die Bewegungsflächen nach DIN 18040 wäre eine Unterschreitung der erforderlichen 1,50 m jedoch keine tolerierbare Abweichung, sondern ein Mangel. Die nach DIN 18202 zulässigen Grenzabweichungen müssen also bei der Planung durch sogenannte Vorhaltemaße berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass die erforderlichen Mindestmaße im fertigen Zustand erreicht werden. Im Beispiel sollte der geplante, lichte Abstand (Nennmaß) unter Berücksichtigung von 2 × Ø 10 mm Innenputz mindestens 1,536 m bzw. besser 1,54 m betragen.
Autor: Lutz Engelhardt, Dipl.-Ing. (FH) Architekt, Mitherausgeber „Atlas barrierefrei bauen“