Bewegungsstudien und Befragungen: Ziel des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts SiME „Sicherheit für Menschen mit körperlicher, geistiger oder altersbedingter Beeinträchtigung“ ist es, die Selbstrettung dieser Personengruppen bei der Räumung von Gebäuden zu verbessern. Im Fokus des Projektes stehen diejenigen Menschen mit Beeinträchtigungen, die in Werkstätten tätig sind oder in entsprechenden Wohnformen leben. Der Beitrag enthält ausgewählte Ergebnisse einer Online-Befragung der Werkstattleitungen und Feuerwehren.

Mit dem SiME-Projekt werden u.a. die aktuellen Sicherheitskonzepte in Einrichtungen der Eingliederungs und Behindertenhilfe untersucht und Bewegungsstudien unter Beteiligung von Personen mit Rollstuhl, Rollator, Mehrfachbeeinträchtigung u.a. durchgeführt. Die so ermittelten Bewegungsparameter sollen schließlich Eingang in Modell-Simulationen finden, die eine realitätsnahe Einschätzung z.B. der Evakuierungszeiten von Personengruppen mit körperlicher, geistiger oder altersbedingter Beeinträchtigung ermöglichen. Auf der Basis dieser Simulationsergebnisse sind u.a. Empfehlungen für die Sicherheits- und Schulungskonzepte der betreffenden Einrichtungen intendiert, die auch für die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden von Nutzen sein können. Das Forschungsvorhaben soll letztlich dazu beitragen, bei der Erstellung von Räumungskonzepten in Zukunft die Sicherheitsinteressen aller Personengruppen – also auch solcher mit verschiedensten Beeinträchtigungen – besser berücksichtigen zu können [1] [2].
In diesem Kontext hat die Hochschule Niederrhein Ende 2016 eine Online-Befragung zur Sicherheitsinfrastruktur in Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit allen Werkstattleitungen der Eingliederungshilfe in der BRD (N = 729, bereinigte Rücklaufquote 23 %), allen Berufsfeuerwehren in der BRD (N = 106, bereinigte Rücklaufquote 35 %) und allen Freiwilligen Feuerwehren in NRW (N = 365, bereinigte Rücklaufquote 45 %) durchgeführt [3]. Die Untersuchung ist dabei multiperspektivisch angelegt: In allen drei Befragungen findet sich ein Set von identischen Kernfragen, das aus der jeweils unterschiedlichen professionellen Perspektive der drei Gruppen beantwortet werden soll.
Gegenstand der Befragung ist u.a. die Zusammenarbeit der Einrichtungen mit anderen Institutionen in Sicherheitsfragen, Erfahrungen bei Räumungsübungen/Räumungen, die Ausgestaltung der Sicherheitsinfrastruktur (betriebliche, organisatorische Maßnahmen, Räumungskonzept, Helferkonzept, gewünschte Sicherheitstechnik), Schadensfälle und Änderungs- und Unterstützungsbedarfe der Einrichtungen in Bezug auf die Sicherheitsinfrastruktur. Mit dieser Untersuchung liegt unseres Wissens erstmalig eine differenzierte multiperspektivische Betrachtung zur sensiblen Thematik der Sicherheitsinfrastruktur in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe als Vollerhebung für die BRD vor. Eine ähnliche Untersuchung – allerdings mit dem Fokus auf Brandschutzmaßnahmen – haben Göbell und Kallinowsky [4] mit Tageseinrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche durchgeführt.
Ausgewählte Ergebnisse der Online-Befragungen
Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse berichtet. Die detaillierten Befunde können dem Forschungsberichtentnommen werden, der kostenlos zum Download bereitgestellt ist [3].
Qualität der Kooperation

Die Werkstätten schätzen wie die Feuerwehren die Qualität ihrer Zusammenarbeit auf einer Schulnotenskala von 1 bis 6 insgesamt als eher gut ein. Und obwohl die Zusammenarbeit mit der Feuerwehr von den Werkstätten als gut bewertet wird, zählen die Feuerwehren zu der Gruppe, mit der die Werkstätten am ehesten eine stärkere Kooperation eingehen möchten: Mit 47 % hält nahezu die Hälfte der Werkstattleitungen eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Feuerwehrin Sicherheitsfragen für notwendig. Die Feuerwehren sehen aus ihrer fachlichen Sicht zu deutlich höheren Anteilen als die Werkstattleitungen die Notwendigkeit einer stärkeren gemeinsamen Kooperation, um die Sicherheitsinfrastruktur in den Einrichtungenzu stärken (Berufsfeuerwehr mit 61 % Zustimmung, Freiwillige Feuerwehr NRW mit 74 %).
Gemeinsame Räumungsübungen
In nur 57 % der Werkstätten fanden innerhalb der letzten drei Jahre gemeinsame Räumungsübungen mit der Feuerwehrstatt. Das ist angesichts der Wichtigkeit dieser Kooperationsform für die Verbesserung der Sicherheitsinfrastruktur der Werkstätten eine vergleichsweise geringe Quote. Es zeigt sich zudem, dass die Freiwilligen Feuerwehren (in NRW) zudeutlich geringeren Anteilen (49 %) als die Berufsfeuerwehren (in der BRD 69 %) gemeinsame Räumungsübungen (innerhalbder letzten drei Jahre) mit den Einrichtungen durchgeführt haben.
Das SiME-Projekt
Projektbeteiligte mit unterschiedlichen Teilvorhaben
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Zufriedenheit mit der Sicherheitsinfrastruktur
Die Werkstattleitungen zeigen sich mit der Ausgestaltung und der Praxis ihrer Sicherheitsinfrastruktur zufrieden, und zwar überalle Bereiche – wie den baulichen, anlagentechnischen und organisatorischen Brandschutz– hinweg. Interessanterweise ist dabei die globale Zufriedenheit insgesamtmit 96 % (eher und voll und ganz zufriedene Einrichtungen) höher als jeder einzeln bewertete Bereich. Die globalen Zufriedenheitsurteile fallen –wie erwartet – bei den Feuerwehren insgesamt deutlich niedriger aus als bei den Werkstattleitungen: (eher und voll und ganzzufrieden) mit der Sicherheitsinfrastruktur der Werkstätten sind die Berufsfeuerwehren mit einem Anteil von 80 % und die Freiwilligen Feuerwehren mit 77 %. Die Feuerwehren sehen übereinstimmend in der Vernetzung der Sicherheitsinfrastruktur (also in der Abstimmung von baulichen, sicherheitstechnischen und organisatorischen Maßnahmen) die zentralen Defizite. Darüber hinaus betrachten die Freiwilligen Feuerwehren (in NRW) insbesondere die organisatorischen Maßnahmen der Einrichtungenals defizitär: 40 % der Feuerwehren sind mit diesen (eher nicht und überhaupt) nicht zufrieden.
Originäre organisatorische Maßnahmen
Als Kernmuster der organisatorischen Maßnahmenzeigt sich in den Werkstätten eine Kombination von Brandschutzunterweisung für Menschen mit Beeinträchtigungen, regelmäßige Räumungsübungen, ein System zur Erfassung der Anwesenheit und Maßnahmen zur Helferzuordnung. Beunruhigend ist, dass eine Gruppe von rund 9 % aller Werkstätten keine einzige der aufgelisteten organisatorischen Maßnahmen durchführt.
Sicherheitskonzept

Rund die Hälfte der Werkstattleitungen gibtan, dass sich ihr Sicherheitskonzept primäram Brandschutz orientiert. In der VDI Richtlinie 4062 „Evakuierung von Personenim Gefahrenfall“ [5] wird auf eine Vielzahlauslösender Ereignisse von Notfallsituationen hingewiesen (betriebsinterne Ereignisse, Umfeldereignisse, Bedrohungen und Naturereignisse), auf die mit angemessenen Sicherheitskonzeptionen reagiert werden müsse. Mindestens die Hälfte der Werkstättenin der BRD ist derzeit weit davon entfernt,derlei Szenarien in ihrer Sicherheitskonzeption hinreichend zu berücksichtigen.
Räumungskonzept
Unter den Räumungskonzepten dominiertdie horizontale, ebenerdige Evakuierung aller Personen einer Einrichtung ins Freie mit 68 % aller Nennungen, gefolgt von der direkten vertikalen Evakuierung (aus baulichen Gründen) mit 16 %. Evakuierungen sind das Standardmodell der Räumung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Gefahrensituationen.
Drei zentrale Stellschrauben
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Brandschadensfälle
28 % der Werkstattleitungen geben an, dass es in den letzten fünf Jahren mindestens einen (non-trivialen) Brandschadensfall in den Einrichtungen ihrer Organisation gegeben hat, der mit einer Räumung verbunden war. Dabei zeigt sich kein wesentlicher Unterschied des Auftretens solcher Schadensfälle zwischen Werkstätten und Wohnstätten/Wohneinrichtungen für Menschen mitBeeinträchtigungen. Unter der Voraussetzungeiner Gleichverteilung der Schadensfälleim Zeitverlauf zeigt sich: Jährlich kommt esin rund 6 % der Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen zu mindestens einem (non-trivialen) Brandschadensfall, der mit einer Räumung verbunden ist.
Änderungsbedarf

Die befragten Institutionen reklamieren auch spezifische Änderungsbedarfe in Bezug auf die Sicherheitslage. Immerhin 66 % der Werkstattleitungen würden – unter Berücksichtigung der baulichen Gegebenheiten und der spezifischen Zusammensetzung ihrer Mitarbeiterschaft – gerne barrierefrei öffnende Rauch- und Brandschutztüren in ihrer Einrichtung einsetzen, tun oder können es aber nicht. Zudem konstatieren die Einrichtungen überwiegend in nahezu allen rechtsgebenden und ordnenden Handlungsbereichen einen Änderungsbedarf, insbesondere aber bei der Finanzierung der Sicherheitstechnik: 51 % der Einrichtungen sehen bei den Finanzierungsmodalitäten der Sicherheitstechnik
einen hohen Änderungsbedarf und zusätzlich 32 % einen geringen.
Unterstützungsbedarf
Darüber hinaus benennen die befragten Werkstätten auch Unterstützungsbedarfe in folgenden Bereichen: Unterstützung bei der Entwicklung (qualifizierter) Sicherheitskonzepte, die Verfügbarkeit konkreter
Handlungsempfehlungen in Form von Handreichungen und Leitfäden zur Sicherheitsthematik, die Verfügbarkeit von Schulungskonzepten zu Sicherheitsfragen, die intern genutzt werden können, und Schulungen in Sicherheitsfragen durch Externe. Überschlägig lässt sich sagen, dass jeweils rund die Hälfte der Einrichtungen in jedem dieser Bereiche einen besonderen Bedarf artikuliert. An der Spitze steht allerdings mit 63 % der Nennungen der beklagte Mangel an geeigneten Schulungskonzepten zu Sicherheitsfragen für den internen Gebrauch. Augenscheinlich reichen die derzeitigen Angebote und Angebotsstrukturen – z.B. der Feuerwehren oder auch der Berufsgenossenschaften – nicht aus, die Bedarfslagen der Einrichtungen in diesem Bereich hinreichend abzudecken. Mit 27 % aller Werkstattleitungen ist die Gruppe, die in allen o.g. vier Bereichen einen Unterstützungsbedarf
hat, am stärksten vertreten. Rund 80 % der Werkstattleitungen reklamieren in mindestens einem der genannten Bereiche einen besonderen Bedarf.
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Fazit
Auf der Basis der Befragungsergebnisse ergeben sich drei zentrale Stellschrauben, um die Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu stärken:
- Räumungsübungen
Einrichtungen und Feuerwehren sollten verpflichtet werden, Räumungsübungen in regelmäßigem Turnus gemeinsam durchzuführen. Wichtig ist es, Gelegenheitsstrukturen zu schaffen und zu institutionalisieren, die ein besseres Kennenlernen und gemeinsames Üben von Werkstätten und Feuerwehren ermöglichen – allen zeitlichen und personellen Friktionen zum Trotz. Für Werkstätten und Feuerwehren mit einer guten Kooperation würde sich durch verpflichtende gemeinsame Übungen nichts Wesentliches ändern. Aber es wären so für alle Einrichtungen und Feuerwehren Mindeststandards der Kooperation gesetzt. - Finanzierung
Die Refinanzierungsmöglichkeiten notwendiger Sicherheitstechnik in den Einrichtungen sollten durch entsprechende (bau-)rechtliche Vorgaben, die den besonderen Anforderungen und Bedürfnissen von Menschen mit Beeinträchtigungen gerecht werden, sichergestellt werden. Die Werkstattleitungen und die Feuerwehren sehen die restriktiven Finanzierungsbedingungen der Sicherheitstechnik als einen wesentlichen Hemmschuh für die Verbesserung der Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Einrichtungen müssen die Kosten für qualitativ hochwertige Maßnahmen des technischen und insbesondere baulichen Brandschutzes mitunter aus Eigenmitteln tragen, da diese aufgrund fehlender Rechtsgrundlagen von der Refinanzierung durch die Kostenträger häufig ausgenommen sind. - Management und Schulung
Die organisatorischen, betrieblichen Maßnahmen der Einrichtungen sollten durch die Entwicklung und Bereitstellung qualifizierter Sicherheitsmanagement- und Schulungskonzepte gestärkt werden. Die derzeitigen Angebote bzw. Angebotsstrukturen reichen augenscheinlich nicht aus, um die Unterstützungsbedarfe der Einrichtungen hinreichend abzudecken.
Autoren: Dr. phil. Rainer Block, Prof. Dr. Werner Heister, Paul Geoerg
Quellen
[1] SiME – Sicherheit für Menschen mit körperlicher, geistiger oder altersbedingter Beeinträchtigung.
http://www.fz-juelich.de/sime-projekt/DE/Home/home_node.html
[2] Evakuierungsforschung: Soziale Einrichtung schnell und sicher räumen
(Video). http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/evakuierungsforschung-100.html
[3] Block, Rainer/Heister, Werner/Geoerg, Paul: Sicherheit in Werkstätten (und Wohnstätten) für Menschen mit Beeinträchtigungen. Ergebnisse einer Online-Befragung der Werkstattleitungen und Feuerwehren in der BRD zur Sicherheitsinfrastruktur in Einrichtungen der Eingliederungs und Behindertenhilfe. Hochschule
Niederrhein, SO.CON-Institut, Mönchengladbach 2017.
https://www.hs-niederrhein.de/fileadmin/dateien/fb06/nutzer/Heister/SiME/sime_onlinebefragungen.pdf
[4] Göbell, Johannes/Kallinowsky, Steffen: Barrierefreier Brandschutz. Methodik – Konzepte – Maßnahmen.
FeuerTRUTZ Network GmbH & Verlagsgesellschaft Rudolf Müller GmbH & Co. KG, Köln, 2016
[5] VDI-Richtlinie 4062: 2016 – 04 „Evakuierung von Personen im Gefahrenfall“