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Entwicklung von Maßnahmen für die Selbstrettung
Die Anforderungen zur Barrierefreiheit, z. B. der DIN 18040-1, des Dansk Standard 3028:2001 oder die Anforderungen im Sinne der Barrierefreiheit ermöglichen zwar, Menschen mit Behinderungen oder altersbedingt körperlichen Einschränkungen das Benutzen von Gebäuden; für die Sicherstellung einer weitgehend selbstständig durchführbaren Flucht im Brandfall genügt dies jedoch nicht. Dazu ist eine systematische Einordnung der Gebäude nach dem Anteil behinderter Nutzer ebenso notwendig wie die Beantwortung der Frage, ob diese Menschen das Gebäude nur tagsüber oder auch in der Nacht nutzen. Zusätzlich ist das Verhältnis zwischen Nutzern mit Behinderungen bzw. Einschränkungen und der möglichen Helfer zu klären. Aus diesen Analysen lassen sich Parameter für eine Systematik entwickeln, die eine Einstufung der Gebäude hinsichtlich eines barrierefreien Brandschutzes ermöglichen. Damit wird ein Verfahren geschaffen, das für jedes Gebäude mit behinderten oder körperlich eingeschränkten Nutzern einen schnellen Überblick über die für das Gebäude erforderlichen baulichen Maßnahmen zum barrierefreien Brandschutz liefert. Ein solches Verfahren wird in dieser Artikelserie vorgestellt. U. U. wird zusätzlich noch die Anwendung spezifischer Ingenieurmethoden erforderlich sein, diese sind dann aber schon Teil eines tiefergehenden funktionalen und wirtschaftlichen Optimierungsprozesses.
Behinderungen und Anforderungen im Fall der Selbstrettung
Je nach Art der Behinderung können die spezifischen Anforderungen zur Bewegung und Orientierung in einem Gebäude sehr unterschiedlich sein. Der Schwerhörige bis Gehörlose ist in hohem Maße auf visuelle Informationen und Zeichen angewiesen. Ist seine körperliche Bewegungsfähigkeit jedoch nicht eingeschränkt, gelten die gleichen baulichen Anforderungen wie für Nichtbehinderte. Ganz anders sieht es bei einer Sehbehinderung aus. Hier steht die akustische Orientierung im Vordergrund, unterstützt durch entsprechende taktile Strukturen auf dem Boden. Außer den damit verbundenen Tastbereichen und einem akustisch ruhigen Umfeld sind, soweit bei dem Sehbehinderten keine Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit vorliegen, auch hier baulich keine erhöhten Anforderungen an Wege oder Durchgänge erforderlich. Jedoch erhält für den Sehbehinderten das akustische Umfeld gerade im Alarmfall eine besondere Bedeutung. Im Normalfall hilft einem sehbehinderten Menschen zur Orientierung innerhalb eines Gebäudes ein akustisch eher ruhiges Umfeld, vielleicht sogar ergänzt durch gezielte Ansagen. Im Alarmfall ist er aber unbedingt auf eine klare, unmissverständliche Sprachalarmierung angewiesen, besonders wenn er sich in Räumen oder Bereichen aufhält, in denen nur mit wenigen oder gar keinen helfenden Personen zu rechnen ist. Diese unterschiedlichen Behinderungen verdeutlichen auch den tieferen Sinn einer Barrierefreiheit im Sinne des Universal Design. In beiden Fällen spielen größere räumliche Abmessungen keine oder nur eine nachrangige Rolle. Im Vordergrund steht vielmehr die Qualität der Orientierungsmöglichkeiten und Informationsvermittlung. Selbstrettung bedeutet in diesen Fällen also die Möglichkeit zur Selbstorientierung, die bei einem Menschen ohne Einschränkungen der Seh- oder Hörfähigkeit eine unbewusst vorhandene Selbstverständlichkeit ist. Für die grundlegende Bewertung ist es deshalb sinnvoll, den Anteil aller unterschiedlichen Behinderungen, die spezifischen Nutzungen der Gebäude im Tagesverlauf und den Anteil der tatsächlichen oder potenziellen Hilfskräfte heranzuziehen. Erst nach genauer Einordnung des zu betrachtenden Gebäudes können bei der weiteren Planung die spezifischen Anforderungen, die sich aus unterschiedlichen Behinderungen ergeben, zur Erreichung der Schutzziele berücksichtigt werden.
Systematik der Gebäude
Im Bevölkerungsdurchschnitt liegt der Anteil an Schwerbehinderten bei ca. 5 %. Diese Zahl kann für alle Gebäude angesetzt werden, die nicht als ausgesprochene Behinderteneinrichtung genutzt werden. Durch die Berechnung des Anteils behinderter Nutzer und die Einordnung in einen reinen Tag- oder einen Tag-und-Nacht-Betrieb ergeben sich als Grundlage einer planerischen Bearbeitung zum barrierefreien Brandschutz drei Gruppen von Gebäuden. […]
Nutzerseitige Anforderungen
Das Ziel der Selbstrettung behinderter Nutzer eines Gebäudes kann erreicht werden, wenn Behinderte zusammen mit einem oder mehreren Helfern in die Lage versetzt werden, sich selbst zu retten. Daher muss berechnet werden, wie viele Helfer speziell für diese Einrichtung benötigt werden, um eine unterstützte Selbstrettung aller Behinderten zu ermöglichen. Hierzu ist eine klare Einstufung der behinderten Menschen notwendig, wobei es – wie oben aufgezeigt – nicht ausreichend ist, nur Mobilitätseinschränkungen zu beurteilen. Die Autoren haben ein System zur Einstufung entwickelt, mit dem sich die Zahl benötigter Betreuer (B) ermitteln lässt. Damit liegen wichtige Kennzahlen zur spezifischen Definition der funktionalen Anforderungen – und damit der notwendigen brandschutztechnischen Maßnahmen – für eine Behinderteneinrichtung vor. Bei dieser Einstufung werden die Behinderungen der Nutzer über die Kategorien H1 bis H6 (s. Tabelle) beschrieben. In jeder Kategorie ist ein Einstufungsfaktor (E) hinterlegt. Er gibt an, wie viele Helfer für eine Person dieser Einstufung notwendig sind, um eine horizontale Selbstrettung zu ermöglichen. Nach der Einstufung aller behinderten Nutzer der Einrichtung (oder einer repräsentativen Gruppe) lassen sich die insgesamt benötigten Betreuer für diese Einrichtung berechnen. Der Parameter B ergibt sich aus der Summe der Multiplikationen der Anzahl der Personen jeweils einer Kategorie mit dem Einstufungsfaktor dieser Kategorie. Dieser Wert stellt einen Grundparameter zur brandschutztechnischen Beurteilung der Einrichtung dar.

Fazit
Vor der Erstellung von Konzepten zum barrierefreien Brandschutz sind alle nutzerseitigen Anforderungen und die Art der Nutzung zu untersuchen. Daraus ergeben sich Gebäudekategorisierung und Nutzereinstufung. In den folgenden Teilen der Serie wird dargelegt, wie sich, auf Grundlage individueller Systematik sowie der daraus ermittelten Kennzahlen schon im Planungsansatz Aussagen zu baulichen und gebäudetechnisch notwendigen Maßnahmen ableiten lassen, mit dem Ziel, Behinderten eine Selbstrettung im Gefahrenfall zu ermöglichen.
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Quelle: FeuerTRUTZ Magazin
Autor: Johannes Göbell und Steffen Kallinowsky
Gesamter Beitrag: Barrierefreier Brandschutz – Teil 2 (PDF)